Kolumne

Müssen die Strukturen starr sein?

Ich habe gerade ein Buch des Bildungsbloggers Bob Blume gelesen, in dem er die starren Unterrichtsstrukturen beklagt. (Bob Blume: 10 Dinge, die ich an der Schule hasse, München, 2022).
Nun unterrichtet der Autor an einem Gymnasium, und da liegen die Dinge sicher anders.

In der Grundschule allerdings gibt es keine pädagogisch sinnvolle Rechtfertigung für einen Vormittag, der nur aus aneinandergestückelten
45-Minuten-Häppchen besteht, von denen jedes eine vollständige, abgeschlossene „Stunde“ sein soll, mit Motivation, Einführung, Erarbeitung, Zusammenfassung und Wiederholung.


Wir haben ganz andere Möglichkeiten und zum Glück auch inzwischen einige Lehrerinnen, die diese Möglichkeiten nutzen, wenn es auch nach wie vor viel zu wenige sind.
Ich möchte dir, falls du das Glück hast, Klassenlehrerin zu sein, einige Ideen vorstellen, nichts großartig Neues. Denn „eigentlich“ ist alles, was sinnvoll und wirkmächtig ist, bereits bekannt. Das Rad ist längst erfunden, wir müssen nur noch damit fahren.

  • Befreie dich von den starren Stundengrenzen
    Du musst nicht den ganzen Vormittag bei jedem Läuten der Schulglocke immer das eine Thema abbrechen und ein neues beginnen. In der Grundschule dürfen die Stundengrenzen zugunsten eines pädagogisch sinnvollen „Designs“ verschoben werden, das ist erlaubt. Lies die Präambel unseres Lehrplans!
    Natürlich soll in der Gesamtschau das Mengenverhältnis einigermaßen stimmen. Wenn du also z.B. ein Mathefreak bist, dann darfst du nicht den Deutschunterricht einfach unter den Tisch fallen lassen und dafür Mathe machen. Aber das hat ja ohnehin kein vernünftiger Mensch vor. Es geht nur darum, dass du dich nicht sklavisch an die Zerstückelung des Vormittags halten musst. Dass das bei der Benutzung von Fachräumen nicht möglich ist, sagt einem ohnehin der Hausverstand, es müssen sich die Kollegen ja darauf verlassen können, dass der Musikraum auch frei ist, wenn sie „dran“ sind, aber das sind ja nur Details.

So etwas hat nicht in 45 Minuten Platz

  • Baue in jeden Tag einen Zeitblock für Freiarbeit ein
    Freiarbeit ist eine Flagge, unter der sehr viele unterschiedliche Schiffe segeln: Vom stolzen Dreimaster bis zum löchrigen Kahn, bei dem die Ruder fehlen.
    Wenn du wirklich vorhast, deine Schüler an eigenverantwortliches Lernen heranzuführen, musst du strukturiert vorgehen, dir Gedanken machen, was du in das selbst organisierte Lernen verlagern möchtest und dann zunächst auch einmal loslassen und schauen, was passiert.
    Ich habe mich zu diesem Thema in einigen Büchern ausführlich geäußert (Buchner, Unterricht entschleunigen, Beltz, 2017, S. 170 – 194; Buchner, Disziplin, BoD, 2018, S. 54 – 57).
    Die Angst, die Kontrolle zu verlieren und dann im Chaos zu landen, ist unbegründet, wenn du schrittweise vorgehst, die Schüler dann in die Freiheit entlässt, wenn sie die Abläufe sicher beherrschen und den Kindern, die zunächst mit Eigenverantwortung noch nicht zurechtkommen, hilfst, sich weiterzuentwickeln. Einige Stichpunkte zum Thema findest du hier. Das ist ein Ausschnitt aus meinem Seminar zum Thema Freiarbeit.
  • Mach mit deinen Schülern jedes Jahr mindestens ein großzügig bemessenes Projekt
    Mit „großzügig bemesssen“ meine ich, dass es wenig bringt, einmal im Jahr einen einzigen Projekttag zu veranstalten. Das ist zusätzlich sicher nicht verkehrt, aber wirklich ertragreich ist es, wenn deine Schüler sich über einige Wochen in ein Thema buchstäblich hineingraben. Ich habe im Lauf der Jahrzehnte mit meinen Schülern viele Projekte durchgeführt und alle haben sie uns bereichert und vorangebracht. An eines erinnere ich mich ganz besonders gerne: An unser Alexanderprojekt. Das ist aus einer pädagogischen Problemsituation entstanden. Ich war Fachlehrerin für Musik in einer sehr schwierigen 4. Klasse, in der aber ein beachtliches Potenzial vorhanden war. Das wusste ich, denn ich hatte zu Weihnachten mit „meinen“ vier Musikklassen eine Grundschuladaption der Oper Hänsel und Gretel von Humperdinck aufgeführt. Dabei sah ich auch, wie selbst die schwierigsten Schüler bestrebt waren, das Ganze zum Erfolg zu führen.
    Ich sah aber auch, dass gerade die Schüler dieser 4. Klasse – je näher der für bayerische Grundschüler bedeutsame „Stichtag“ 1.Mai rückte – sich immer weniger im Rahmen des „normalen“ Unterrichts steuern ließen.

    In den ersten Arbeitstagen des Mai wird in Bayern in den vierten Klassen das Übertrittszeugnis ausgeteilt, das die Eintrittskarte für Gymnasium oder Realschule bildet oder die Zuweisung an eine Hauptschule, die mittlerweile euphemistisch als „Mittelschule“ bezeichnet wird. Es erfolgt also die höchst unpädagogische Segregation nach dem Motto: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.
    In dieser Klasse waren aber nicht nur die „Schlechten“ schwierig, sondern es bestand die sehr begründete Befürchtung, dass auch die „Guten“ nach Erhalt des Übertrittszeugnisses völlig aus dem Ruder laufen würden. Wir steuerten auf eine Situation zu, in der wir mit einer Klasse konfrontiert sein würden, die nach Erreichen des Ziels „Übertrittszeugnis“ völlig außer Rand und Band sein würde.


    Die Klassenlehrerin war eine sehr engagierte junge Kollegin, die mit gehörigem Unbehagen der möglichen Entwicklung entgegensah und ich bot ihr an, mit ihr gemeinsam für die restlichen Schulwochen ein Projekt durchzuführen. Ich war überzeugt, dass ein großes gemeinsames Unterfangen aus dieser Klasse, in der – wie bereits erwähnt – ja ein gehöriges Potenzial vorhanden war – das Beste herausholen und die Gruppenkohäsion stärken würde.
    Als Thema schlugen wir der Klasse „Alexander der Große“ vor und die Kinder waren davon begeistert. Dann begannen die Planungen und nach den Pfingstferien erfolgte die Umsetzung.
    In diesen Projektwochen erlebten wir diese ungebärdigen Schüler als motiviert, kooperativ, kreativ, fleißig, kurzum: als absolut positiv.
    Besonders einige unserer Sorgenkinder taten sich geradezu unfassbar positiv hervor, halfen, wo immer Not am Mann war und durchliefen eine regelrechte Metamorphose.
    Es gab unterschiedliche Workshops, in die sich die Schüler einwählen konnten, eine Reihe von Müttern brachte sich in unsere Aktivitäten ein. Wir veranstalteten eine Alexander-Ausstellung, gestalteten verschiedene Ausstellungskojen zu Themen aus Alexanders Leben, ferigten Papiermodelle antiker Tempel an, klebten nach Vorlagen die Mosaiken des Ischtar-Tores in Babylon nach, stellten die Sarissenigel aus Alexanders neuartiger militärischer Formation nach und spielten Szenen aus Alexanders Leben.
    Am Abschlusstag unseres Projektes gingen wir alle in antiker Kleidung: Einige Mütter hatten aus Nessel einfache bodenlange Kittelkleider für die Mädchen und kniekurze Kittel für die Buben genäht. Als Gürtel hatten wir Kordeln gedreht. Die Mädchen hatten sich antike Perlenkrägen aus Filz und Mosaiksteinen geklebt und unsere Alexander-Show – unterlegt mit dem Soundtrack des Hollywoodfilmms – war ein grandioser Erfolg. Wir mussten sie 18mql aufführen und schafften es gerade noch, vor Ferienbeginn alles aufzuräumen. Dann gingen wir alle mit dem Gefühl, etwas Tolles geleistet zu haben, in die Ferien.
    Die Kollegin übrigens, mit der ich damals zusammenarbeitete, macht seither jedes Jahr ein mehrwöchiges Projekt. Sie war mittlerweile auch Klassenlehrerin einer ersten und zweiten Klasse, und auch da gelang es ihr, mitreißende Projekte mit ihren Schülern durchzuführen.
    Sehr ausführlich berichte ich über dieses Alexanderprojekt auch in meinem oben bereits erwähnten Buch „Unterricht entschleunigen“.

Wenn du alleine diese drei Tipps in deinem Unterricht umsetzt, wirst du erleben, dass Schule mehr sein kann als nur eine „Lernanstalt“. Sie kann Lebens- und Gestaltungsraum werden.
Und es ist nicht schwer:
– Starre Stundengrenzen aufbrechen
– Freiarbeit täglich durchführen
– Jedes Jahr ein intensives Projekt