Kolumne

Augen auf beim Autofahren

Die meisten jungen Leute wollen so bald wie möglich den Führerschein machen. Das ist auch gut so, denn selber autofahren zu können ist ein bedeutendes Stück Autonomie.

Nur: Die Durchfallqote bei den Fahrprüfungen steigt seit Jahren, so der Vizevorsitzende der Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände, Kurt Bartels, in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 30.12.2022. Und weiter:

„Der junge Mensch, der heute in die Fahrschule kommt, hat eine ganz andere Verkehrswahrnehmung als noch vor 20 Jahren – nämlich eine geringere.“


Die Fähigkeit, das Verkehrsgeschehen richtig zu beurteilen und einzuordnen, habe nachgelassen.
Bartels führt das auch darauf zurück, dass bereits Kinder, wenn sie auf dem Gehsteig gehen oder auch im Auto gefahren werden, nicht mehr auf die Welt um sich herum achten, sondern nur noch auf ihr Smartphone schauen.

Das ist eine sehr kluge Beobachtung. Denn Raumwahrnehmung, Raumorientierung und Raumvorstellung können in unserem Gehirn nur entwickelt werden, wenn es Gelegenheit hat, sich in der echten Wirklichkeit damit auseinanderzusetzen, zu lernen und zu üben.

Es geht nichts über das echte Leben

Nun werden aber echte dreidimensionale Erfahrungen im Leben unserer Kinder immer seltener. In Kinderarztpraxen, so wurde mir berichtet, sitzen Eltern mit ihren Kindern im Wartezimmer und schauen in ihr Smartphone und auch das Kind hat ein Smartphone oder irgendein elektronisches Gerät, auf dem es wischt und schaut.
Nur gelegentlich gebe es noch Eltern, die gemeinsam mit ihrem Kind ein Buch anschauen oder ihm vorlesen.
Auch Mütter, die ihr Kleinkind im Kinderwagen schieben, sind häufig nur mit ihrem Smartphone und nicht mit dem Kind beschäftigt.

Mir kommt das sehr seltsam vor, denn es müsste doch eigentlich schön sein, sich mit dem eigenen Kind abzugeben, mit ihm zu plaudern, seine Fragen zu beantworten.


Und solche Mütter gibt es ja auch – es wäre nicht richtig, hier eine allgemeine Behauptung aufzustellen. Aber es sind eben nicht allzu viele.
In der Schule merken wir dann sehr deutlich die Unterschiede zwischen den Kindern, die die nötige neurologische Ausrüstung für das schulische Lernen mitbringen und jenen, die hier benachteiligt sind.
Es nützt wenig, mit 3 Jahren einen Kurs bei den Compu-Kids zu machen oder im Kindergarten Fremdsprachen zu lernen, wenn die dringend nötigen basalen Fähigkeiten für das Lernen nicht entwickelt werden:
Raumorientierung und Raumvorstellung, Raum-Lage-Wahrnehmung, Auge-Hand-Koordination, Feinmotorik, Figur-Grund-Wahrnehmung, Akkomodationsfähigkeit der Augen, altersgemäßer Wortschatz, Gedächtnis usw.

Und jetzt zurück zum Autofahren

Lassen wir einmal die Grundlagen für das schulische Lernen beiseite und nehmen wir uns wieder die Fähigkeiten vor, die unsere Kinder – einige Jahre später, wenn sie auf das Erwachsenenalter zusteuern – für das Bestehen der Fahrprüfung und für das Autofahren brauchen.
Da brauchen wir nicht sehr viel Vorstellungskraft, um zu erkennen, was wichtig ist:

  • Raumorientierung und Raumvorstellung helfen, das Verkehrsgeschehen rund um das eigene Auto richtig wahrzunehmen und einzuordnen
  • Raum-Lage-Wahrnehmung ist nützlich, um einzuschätzen, wohin sich andere Fahrzeuge bewegen: von mir weg, auf mich zu oder quer über meinen Weg?
  • Figur-Grund-Wahrnehmung ermöglicht beim Schauen die Konzentration auf das Wesentliche und das Ausblenden des Unwesentlichen: Nicht jedes Werbeschild am Straßenrand ist für sicheres Fahren von Bedeutung, sondern alles, was sich auf der Straße, am Straßenrand, in Einmündungen usw. tut.
  • Die Akkomodationsfähigkeit der Augen brauchen wir, um unseren Blick schnell auf das zu fokussieren, was jetzt gerade wichtig ist: eine Ampel, ein Bremslicht weiter vorne, ein Kind, das auf die Straße läuft, ein Radfahrer am Straßenrand, ein Überholer, der entgegenkommt usw.

Unser Gehirn – das Schweizer Taschenmesser

All das, was ich jetzt als wichtige Fähigkeiten für das Autofahren genannt habe, brauchen unsere Kinder auch für das schulische Lernen – natürlich ist da der Kontext ein anderer. Unser Gehirn ist unglaublich praktisch organisiert und verwendet die gleichen Fähigkeiten für ganz unterschiedliche Zwecke.
Übrigens: Was uns im Straßenverkehr und beim Lernen nützt, war schon für die Steinzeitmenschen überlebenswichtig.

Wo ist das Mammut?
Aah, in diese Richtung muss ich laufen!

Wir leben in einer Zeit, die mit der Lebenswelt der Steinzeitmenschen nur noch wenig gemeinsam hat. Aber dennoch muss unser Gehirn erst einmal die Steinzeitfähigkeiten entwickeln, bevor es sich dann mit den speziellen Anforderungen unserer hochentwickelten Zivilisation auseinandersetzen soll.
Sonst wird das sowohl mit dem schulischen Lernen als auch mit dem Führerschein eher schwierig.

Was können wir tun?

Diese Frage stellt sich vielen Eltern, denn sie wollen das Beste für ihr Kind, sind aber angesichts der vielen und einander oft widersprechenden Ratgeber, Tipps und neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse – die auch nicht alle dasselbe aussagen – verunsichert.
Doch vieles, was früher gut war, ist immer noch gut, völlig unabhängig von den Strömungen des Zeitgeistes. Und das Beste dabei: Es ist ziemlich einfach und kostet fast nichts!

Eltern – entspannt euch!

Zuerst einmal: Ihr müsst eure Sprösslinge nicht pausenlos bespaßen und von einem Fördertermin zum nächsten kutschieren.

Raumorientierung und Raumvorstellung werden angelegt, gefördert, ausgebaut und immer weiter verbessert, wenn:

  • die Kinder, sobald sie sitzen können, auf dem Boden spielen dürfen, Bewegungsfreiheit haben und Spielsachen bekommen, die sie echt anfassen und bewegen können;
  • Kinder sich im Freien bewegen, rennen, klettern, springen.

Raum-Lage-Wahrnehmung und auch Raumorientierung werden gefördert

  • durch das Bauen mit Lego, mit Bausteinen, aber auch mit allem, was sich draußen finden lässt.

Die Figur-Grund-Wahrnehmung wird gefördert, wenn

  • Kinder etwas genau und intensiv betrachten. Das wird besonders offensichtlich beim Sammeln von Blumen, besonderen Steinen, Blättern, aber natürlich auch beim Betrachten von Bilderbüchern.

Die Akkommodationsfähigkeit der Augen

  • wird bei jeder Bewegung im Freien besonders gefördert, denn der Focus stellt sich ständig auf andere Entfernungen ein:
    Einmal wandert der Blick ein Stück voraus, dann wird der Horizont betrachtet, dann wieder etwas ganz in der Nähe: eine Blume, ein Insekt, ein Stein usw.

Alles easy – oder?

Ihr seht, die wirklich nützlichen „Förder“-Möglichkeiten ergeben sich eigentlich ganz von selbst, sind einfach und kosten wenig.
Wenn eure Kinder ihre räumlichen Fähigkeiten und ihre Wahrnehmung von klein auf trainieren können, dann habt ihr ihnen zu einem sehr wichtigen Baustein für das schulische Lernen verholfen.
Und einer erfolgreichen Fahrprüfung steht auch nichts mehr im Weg.
Ist das nicht toll?